Anergates atratulus „geboren“!

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Buschinger
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Anergates atratulus „geboren“!

Beitrag von Buschinger »

Anergates atratulus „geboren“!

In der „Ameisenschutz aktuell“*) haben wir 2003 über diese äußerst seltene und merkwürdige Parasitenameise ausgiebig berichtet.

Seit Ende Juli 2005 habe ich eine kleine Nestprobe aus dem Schweizer Wallis in Haltung. Für eine Forschungsarbeit über die Spermienproduktion dieser Ameise mit ihren flügellosen, eigenartig puppenähnlichen Männchen benötigen wir ein paar Männchen.

Nach Überwinterung der kleinen Kolonie in Kühlschrank bzw. Garage vom 12.9. bis 4.12. 05 habe ich sie in mein Arbeitszimmer gebracht. Erwartungsgemäß genügte das als Überwinterung (im Freiland sind sie ca. von Ende September bis Ende April in Winterruhe – im Gebirge auf 2.000 m Höhe). Am 17.12. wurden die ersten Vorpuppen beobachtet, am 23.12. die ersten Weibchenpuppen, am 25.12. die erste Männchenpuppe.
Jetzt, am 03. Jan. 2006, schlüpfte das erste Männchen!

In Bild 1 ist es rechts oben (bei dem M), wo es unbeholfen versucht, sich rollend und kriechend davonzumachen. Die gewaltigen Genitalorgane lassen einen „aufrechten Gang“ nicht zu.

Links daneben sieht man noch drei Männchenpuppen in unterschiedlicher Ausfärbung. Die Reihe darunter sind Weibchenpuppen. Die ganz rechts ist gerade dabei aus der Puppenhaut zu schlüpfen. Die Weibchen sind geflügelt. Sie werden im Nest von den – in dieser Hinsicht sehr aktiven – Männchen begattet, dann erst fliegen sie weg und suchen ein weiselloses Volk der Wirtsarten, Tetramorium caespitum oder T. impurum. Mit viel Glück werden sie dort aufgenommen, werden unmäßig dick und legen Tausende von Eiern. Im Wirtsvolk ziehen die Arbeiterinnen, die keine eigene Brut mehr zu versorgen haben, die Anergates-Brut auf. Das geht anscheinend nur für höchstens 2 Jahre, bis die letzten Tetramorium-Arbeiterinnen verstorben sind.
Für mich ist diese gelungene Anzucht der erste große Erfolg im Neuen Jahr!
A. Buschinger

*)Buschinger, A., Schlick-Steiner B.C., Steiner F.M., Sanetra M.: Anergates atratulus, eine ungewöhnlich seltene Parasiten-Ameise. Ameisenschutz aktuell 17, 1-6, 2003

Edit 15.01.06:

Inzwischen habe ich ein paar Bilder vom Formikar und dem Nest gemacht. Ich baue sie mal hier ein.

Als Formikar (Bild 2) dient eine Kunststoff-Sortimentsschachtel, Länge 19 cm, Breite 11 cm, Höhe 3 cm, mit an 3 Scharnieren befestigtem, überfallendem und dicht schließendem transparentem Deckel. Der Boden ist ca. 3 mm hoch mit Gips ausgegossen, ein dünner Paraffinölfilm an den Wänden erschwert das Herauskrabbeln der Ameisen (Tetramorium schaffen es trotzdem, aber recht langsam, so dass man sie mittels Federpinzette immer wieder zurück setzen kann).
Über der „Nestkammer“ ist ein Loch von ca. 2 cm Durchmesser, mit aufgeklebtem Siebgewebe verschlossen. Ein aufgelegtes Alu-Plättchen kann so verschoben werden, dass sich in der Kammer darunter eine geeignete Luftfeuchtigkeit einstellt. „N“ bezeichnet die Pappkarton-Abdeckung des Nestes. „W“ ist die „Wasserkammer mit einem Alu-Schälchen mit nassem Zellstoff-Stückchen. „Kdw“: Kondenswasser am Deckel zeigt, dass hier der feuchteste Bereich des Formikariums zu finden ist. Nestkammer und Wasserkammer sind über die lange „Futterkammer“ erreichbar.

In Bild 3 ist das Ganze nochmals gezeigt, bei aufgeklapptem Deckel. „H“ und „MKP“ sind Schälchen mit Honigwasser und zerquetschter Mehlkäferpuppe. Bei „D“ sind die Bohrungen erkennbar, durch die der Zugang zu Futter- und Nestkammer ermöglicht wird. Es entsteht ein Feuchtigkeitsgradient zwischen der relativ trockenen Nestkammer über die mäßig feuchte Futterkammer zur sehr feuchten Wasserkammer. Links vor der Wasserkammer sieht man ein Stück Tesafilm (eingerollt). Es sichert bei geschlossenem Deckel diesen gegen unbeabsichtigtes Öffnen.

In Bild 4 ist die (nicht mehr ganz neue :) ) Kartonabdunkelung des eigentlichen Nests abgenommen. Dieses besteht aus einem 3 mm hohen Rähmchen aus Plexiglas, mit Nesteingang (rechts). Darauf ist eine dünne Plexiglasplatte mittels Tesafilmstreifen aufgeklebt (vorn sowie ober- und unterhalb des Nesteingangs zu erkennen). Hält seit August 2005 (bis jetzt 5 ½ Monate). Unten zum Gips hin ist das Nest offen. Es lässt sich abnehmen, wenn man einzelne Tiere heraus fangen will. Bietet man dann in der Futterkammer einen dunklen Unterschlupf an, zieht die ganze Bande innerhalb 1-2 Stunden dorthin um, man kann das Nest wieder an den alten Platz legen (vorher tunlichst das Plexi-Dach putzen), Pappe auflegen, provisorischen Unterschlupf wegnehmen und alles zieht wieder in das reguläre Nest zurück. Stress? Was ist das? – Es waren noch nie negative Folgen erkennbar!

Bild 5 zeigt einen Ausschnitt des Anergates-Völkchens. „WP“ ist eine schlüpfreife Anergates-Weibchenpuppe, direkt links davon eine noch weiße Puppe. Bei „kLv“ frisst eine Anergates-Larve an einem Futterbrocken. Die schwarze Farbe zeigt, dass es sich dabei um ein Stück eines verstorbenen Weibchens handelt. Kannibalen sind sie also auch noch! „phW“ ist ein bereits etwas physogastrisches Weibchen, von dem weiter unten berichtet wird (bei „Koloniegründung“). Wenn man es weiß, ist unter der der linken Antenne sogar die gerade nach vorn gestreckte linke Mandibel erkennbar.

Die ganze Haltungstechnik ist im Detail abwandelbar und hier hauptsächlich durch vorhandene Materialien bestimmt.
Wichtig sind eigentlich nur: 1. ein dunkler und niedriger Unterschlupf; 2. ein Feuchtigkeitsgradient zwischen dem Nest und der Kammer mit Trinkwasser, 3. ein relativ trockener Futterbereich, 4. eine gute Ausbruchsicherung (dichter Deckel plus Paraffinöl), 5. regelmäßige Kontrolle von Feuchtigkeit und Futter (Honig und MKP schimmeln bereits ab dem 2. Tag!), 6. geeignete Temperaturen jeweils im „Sommer“ und während der Überwinterung.

Zur Zeit („Sommer“) regle ich die Temperatur zwischen 18 C bei Nacht und 25 C bei Tag über die Zimmertemperatur und eine über dem Formikar tagsüber eingeschaltete Schreibtischlampe.

A. Buschinger
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Bild 1: Anergates atratulus. Oben: Drei Männchenpuppen und - rechts- ein eben geschlüpftes Männchen; untere Reihe: Fünf Weibchenpuppen, von denen die ganz rechts gerade schlüpft.
Bild 1: Anergates atratulus. Oben: Drei Männchenpuppen und - rechts- ein eben geschlüpftes Männchen; untere Reihe: Fünf Weibchenpuppen, von denen die ganz rechts gerade schlüpft.
Bild 5: Ein Teil des Anergates-Völkchens. WP = Weibchenpuppe; kLv = kannibalische Larve: phW = leicht physogastrische Jungkönigin.
Bild 5: Ein Teil des Anergates-Völkchens. WP = Weibchenpuppe; kLv = kannibalische Larve: phW = leicht physogastrische Jungkönigin.
Bild 4: Verdunkelung des Nestes abgenommen.
Bild 4: Verdunkelung des Nestes abgenommen.
Bild 3: Formikar, Deckel geöffnet. H = Honigwasser; MKP = Mehlkäferpuppe; W = Wassernapf; D = Durchgänge.
Bild 3: Formikar, Deckel geöffnet. H = Honigwasser; MKP = Mehlkäferpuppe; W = Wassernapf; D = Durchgänge.
Bild 2: Gesamtes Formikar, Deckel geschlossen. N = Nest; LÖ = Lüftungsöffnung; W = Wasser; Kdw = Kondenswasser.
Bild 2: Gesamtes Formikar, Deckel geschlossen. N = Nest; LÖ = Lüftungsöffnung; W = Wasser; Kdw = Kondenswasser.
Zuletzt geändert von Buschinger am 15. Jan. 2006, 15:22, insgesamt 2-mal geändert.
Buschinger
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Eine Woche später: Hochzeit!

Beitrag von Buschinger »

Nur eine Woche nach dem Schlüpfen des ersten Männchens und der ersten Jungweibchen meiner Anergates atratulus wird im Nest bereits Hochzeit gefeiert. Unter Brüderchen und Schwesterchen, aber das ist halt Natur pur bei der „arbeiterlosen Parasitenameise“.

Das Bild 1 zeigt ein Pärchen, unten das Männchen (bräunlich, dicklich, unbeholfen, ohne Flügel), U-förmig um die Gaster des ebenfalls eingekrümmten Weibchens gelegt. Das geht über Stunden so, und man kann die beiden getrost aus dem Nest nehmen und auf farblich passendem Untergrund vor der Kamera positionieren.
Es geht bei unserem Forschungsprojekt darum, Männchen zu untersuchen, die bereits mehrfach kopuliert haben. Entsprechend habe ich das Weibchen, nachdem sanftes Zureden mit der Federpinzette die Idylle beendet hatte, seziert um festzustellen, ob wirklich eine Spermaübertragung stattgefunden hat.

Bild 2 zeigt das Zwischenergebnis, eine im Durchlicht des Mikroskops bräunlich erscheinende Spermatheca (receptaculum seminis). Im Auflicht unter dem Binokular wirkt sie weiß oder bläulich irisierend.

Bild 3: Bringt man die Spermatheca durch vorsichtiges Drücken zum Platzen, quellen Unmassen von Spermien hervor. Im Wasser, in dem die Präparation erfolgte, quellen die Spermienköpfchen auf. Was man sieht, sind die langen, fädigen Spermienschwänze und ein paar der gequollenen Köpfchen. Eine Spermaübertragung hat also tatsächlich stattgefunden.

In Bild 4 ist an der Spermatheca eines weiteren Weibchens eine auffällige, Y-förmige Struktur zu erkennen. Dies ist der Spermagang, durch den das Sperma bei der Begattung in die Spermatheca gedrückt wird, und durch den bei (fast) jeder Eiablage ein paar wenige Spermien auf das Ei gegeben werden. Der Gang selbst ist der untere Schenkel des Y, zur chitinigen Spermatheca hin ist er trichterartig erweitert.

Ein Anergates-Weibchen ist in diesem jugendlichen Zustand ca. 3 mm lang, ihre Gaster bringt es auf ca. 9/10 mm, und der Durchmesser der Spermatheca ist weniger als ein Zehntel davon.
Es sind so mit die kleinsten Strukturen, die ich mittels feiner Uhrmacherpinzetten unter dem Binokular, bei 25 – 50facher Vergrößerung, gerade noch ausbauen kann.

A. Buschinger
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Bild 4: Auf einer Spermatheca ist eine Y-förmige Struktur erkennbar, der Spermagang.
Bild 4: Auf einer Spermatheca ist eine Y-förmige Struktur erkennbar, der Spermagang.
Bild 3:Nach Quetschen der Spermatheca quellen die fädigen Spermien heraus. Bei einigen sind die im Wasser angeschwollenen Köpfchen zu erkennen.
Bild 3:Nach Quetschen der Spermatheca quellen die fädigen Spermien heraus. Bei einigen sind die im Wasser angeschwollenen Köpfchen zu erkennen.
Bild 2: Eine gefüllte Spermatheca. Im Durchlicht erscheint sie bräunlich.
<br />Der Durchmesser beträgt ca. 1/15 mm.
Bild 2: Eine gefüllte Spermatheca. Im Durchlicht erscheint sie bräunlich.
Der Durchmesser beträgt ca. 1/15 mm.
Bild 1: Anergates Pärchen in Kopula. Männchen (bräunlich, flügellos) unten.
Bild 1: Anergates Pärchen in Kopula. Männchen (bräunlich, flügellos) unten.
Zuletzt geändert von Buschinger am 23. Jan. 2006, 12:14, insgesamt 2-mal geändert.
Buschinger
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Bilder leerer Spermathecen

Beitrag von Buschinger »

Ergänzend seien hier noch zwei Bilder von leeren Spermatheken gezeigt, also von unbegattet gebliebenen Weibchen.
Bild 5: Im Durchlicht ist die leere Spermatheca als helles Oval zu erkennen, umgeben von Ovarien- und Eileiter-Teilen.
Bild 6: eine stärker vergrößerte, leere Spermatheca weist die charakteristischen Falten der chitinigen Wand auf. Sie sind wohl dadurch bedingt, dass die runde bzw. ovale Spermatheca sich unter dem Druck des Deckgläschens etwas verformt.

A. Buschinger
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Bild 6: Stärker vergrößerte leere Spermatheca (vgl. Bild 2 in dieser Serie)
Bild 6: Stärker vergrößerte leere Spermatheca (vgl. Bild 2 in dieser Serie)
Bild 5: Leere Spermatheca, umgeben von anderen Geweben.
Bild 5: Leere Spermatheca, umgeben von anderen Geweben.
Gerhard Heller
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Beitrag von Gerhard Heller »

Lieber Herr Buschinger,

das sind sehr informative Abbildungen! Haben Sie vor, das Koloniefragment längere Zeit zu halten und evtl. auch Untersuchungen zur Koloniegründung durchzuführen? Könnte man prinzipiell die Lebensdauer des Laborvölkchens durch Zugabe von caespitum-Brut (derzeit natürlich nicht möglich) verlängern?
Ich habe vor vielen Jahren ein sehr kleines Koloniefragment von Anergates + T. caespitum für kurze Zeit beobachtet. Das Nest, dem ich einige Tiere entnahm, fand ich bei Schwabenheim (Rheinhessen). Die Männchen kopulierten bereits mit Weibchen, deren Flügel noch nicht einmal erhärtet waren, und versuchten es sogar an reifen Weibchenpuppen. Begattete Jungweibchen wurden leicht von fremden Tetramorium-Arbeiterinnen aufgenommen, nicht aber von den eigenen Arbeiterinnen, von denen sie sogar getötet wurden.
Falls Sie Ihre Anergates noch im Frühjahr haben, könnte man vielleicht mal schauen, wie sich die Nichtwirtsart T. moravicum zu Anergates verhält.

Viele Grüße
Ihr
G. Heller
Buschinger
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Beitrag von Buschinger »

Lieber Herr Heller,

„Könnte man prinzipiell die Lebensdauer des Laborvölkchens durch Zugabe von caespitum-Brut (derzeit natürlich nicht möglich) verlängern?“
- Ich denke schon. Mein Völkchen ist allerdings derart aus dem Jahresrhythmus, dass neue Tetramorium-Puppen (im Mai? Juni?) auf jeden Fall zu spät kämen. So werde ich die Tierchen nach „Verbrauch“ der Männchen dann wohl ins Jenseits befördern müssen. Die Jungweibchen „warten“ nicht so lange, eine alte Königin habe ich nicht. Es wird also jetzt die noch aus dem Freiland vorhandene Brut restlich aufgezogen und dann ist wohl unausweichlich Ende.
„Die Männchen kopulierten bereits mit Weibchen, deren Flügel noch nicht einmal erhärtet waren, und versuchten es sogar an reifen Weibchenpuppen.“
- Selbiges habe ich irgendwann um 1970 beobachtet. Bilder davon sind in dem Buch von G.H. Schmidt (1974) enthalten, und dieselben Bilder hatte ich Ed Wilson gegeben für „The Ants“ 1990, S. 468.

Damals allerdings hatte ich ein größeres Volk (auch ohne Königin), und ein paar der Jungweibchen wurden darin fertil. Das „halb-physogastrische“ Weibchen in „The Ants“, S. 468 ist eines davon.
Die Jungköniginnen wurden dabei problemlos von ihrem Muttervolk akzeptiert. Genauer gesagt: Ohne experimentellen Vorsatz ließ ich sie einfach drin, und siehe da: Nach 1 Woche wurden die ersten Weibchen dicker. Im Schmidt-Buch sind Bilder eines Weibchens nach 1, 2 und 3 Wochen. In der 3. Woche setzte die Eiablage ein.

Mein jetziges Völkchen hatte von Anfang an sehr wenige Tetramorium. Ich hatte versucht, noch im Sommer/ Herbst ein paar fremde Tetramorium-Arbeiterinpuppen zuzugeben (vom Fundort), aber das schien nicht sehr gut zu gehen. Jetzt ohne wiss. Anspruch: Viele der Puppen wurden zerbissen und aus dem Nest geworfen. Ob welche überhaupt geschlüpft sind und sich den ursprünglichen angeschlossen haben, kann ich nicht sagen. Aber ich hatte zu Hause, ohne Brutschrank etc., ohnehin eine Weile zu kämpfen, bis die Bedingungen einigermaßen brauchbar waren.

Nebenbei: Die Weibchen zeichnen sich ja durch eine merkwürdige Einsenkung der Gastertergite aus, so dass sie mitten auf dem Rücken eine längs verlaufende Grube haben.
Jetzt nach intensiver Beobachtung der Paarung drängt sich mir der Gedanke auf, dass es sich dabei um eine Anpassung an die kurzbeinigen, unbeholfenen Männchen handeln könnte! Wenn man mein Bild 1 hier ansieht, so hat das Männchen ja Mühe, sich am Stielchen festzuhalten (z.T. mittels Mandibeln) und gleichzeitig den Hinterleib weit genug herum zu krümmen, um die Genitalien einführen zu können. Ich könnte mir gut denken, dass ein Männchen ohne diese Grube leicht seitlich abrutschen und den Kontakt verlieren könnte. Das ist vielleicht genügend Selektionsdruck um bei den Weibchen eine solche Grubenbildung zu favorisieren. Schließlich ist es ja die einzige Chance der Weibchen, sich überhaupt fortzupflanzen, wenn sie eines der so seltenen Männchen dazu bringen, genügend lange auf ihrem Rücken zu verweilen und reichlich Sperma – je mehr desto besser – rüber zu pumpen.

Mit Blick auf weitere Versuche, mit T. moravicum etc., müssen wir wohl auf weitere Anergates-Funde hoffen!

Viele Grüße,
A. Buschinger
Buschinger
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Ein wahrhaft „eiliger Vater“

Beitrag von Buschinger »

So kommt es mir in den Sinn angesichts der jüngsten Beobachtung über das Liebesleben der „Arbeiterlosen Parasitenameise“ Anergates atratulus.

Die geringe Größe und die Übersichtlichkeit meines Aufzuchtvölkchens erlaubt es, einzelne Individuen auch über mehrere Tage zu identifizieren.
Gestern (13.01.06) um 9:30 konnte ich beobachten, dass ein weiteres Männchen schlüpfte. Die früher erwähnten waren aus dem Nest genommen und fixiert worden. Heute um 8:30 saß das Bürschchen schon fest verklammert auf dem Rücken eines Weibchens!

„Nur nichts anbrennen lassen“ ist die Devise, und im Normalfall sind ja doch ein paar Brüderchen schon früher geschlüpft; da muss man sich sputen, um auch noch zum Zuge zu kommen.

Ich staune immer wieder darüber, wie viel Neues sich über altbekannte Ameisen herausfinden lässt, wenn man ihnen nur unter geeigneten Bedingungen zusieht.

A. Buschinger

Edit und Ergänzung 15.01.06:
Zum Koloniegründungsverhalten von Anergates atratulus

Heute (15.01.06) konnte ich eine ganz besonders interessante Beobachtung machen:

Ein noch geflügeltes Anergates-Weibchen war im Nest bereits etwas physogastrisch geworden, die Gaster war leicht angeschwollen. Dieses Weibchen schien von einer Tetramorium-Arbeiterin kreuz und quer umher gezerrt zu werden. Genaueres Hinsehen zeigte, dass die Anergates mit ihren Mandibeln eine Antenne der Wirtsarbeiterin fest eingeklemmt hatte! Das wilde Umherzerren ging also von der so „eingefangenen“ Wirtsarbeiterin aus, die „verzweifelt“ versuchte, ihre Antenne zu befreien.

Etwa eine Viertelstunde später war sie freigekommen, und das Anergates-Weibchen lief langsam, die heftig zitterneden Fühler wie „witternd“ angehoben und mit weit aufgesperrten Mandibeln im Nest umher. Die zahnlosen Mandibeln sind auf der Außenseite fast gerade, innen etwas sichelförmig gekrümmt. Sie stehen ganz außen am Kopf, und sie wurden praktisch parallel zueinander gerade nach vorn gerichtet, bereit, wieder einen Fühler „einzufangen“.

Bei Gößwald (z. B. 1954: Unsere Ameisen I, Kosmos-Bändchen) sind derartige Beobachtungen nachzulesen. Das Verhalten steht sicher mit der Koloniegründung der Parasiten in Zusammenhang. Nach oft längerem Flug gelandet, kann so ein begattetes Weibchen mit einer Tetramorium-Arbeiterin zusammentreffen. Die Anergates rollt sich nach Berührung zusammen, sperrt die Mandibeln und lässt die Fühler kreisen. Wenn die Tetramorium sie unvorsichtig betastet, schnappen die Mandibeln zu. Die Wirtsarbeiterin sei dann kurzfristig wie gelähmt, danach schleppe sie das Parasitenweibchen unfreiwillig mit in das Tetramorium-Nest, auf die Brut zu. Das bringt der Anergates wohl in der Regel den Tod, denn, wie schon Gößwald schrieb, Aufnahme findet sie „wohl nur in weisellosen Tetramorium-Kolonien“, die auch keine eigene Brut mehr enthalten.

Die ganze Geschichte haben zeitgenössische und auch spätere Myrmekologen nie so recht glauben wollen. Beobachtet hat es sonst auch noch niemand (zumindest findet man nichts Publiziertes dazu). In „The Ants“ von Hölldobler und Wilson (1990) wird sie nicht erwähnt, und ich muss zugeben, dass auch ich gewisse Zweifel hatte. Es ist aber was dran, wie die hier beschriebene Beobachtung lehrt. Sogar die Angabe bei Gößwald, wonach die Anergates „an der dicken Fühlerkeule festgehalten“ wird, kann ich bestätigen. Intuitiv würde man eher denken, dass die Anergates am dünneren Teil der Antennengeißel besser zupacken könnte.

Gewiss habe ich meine Beobachtungen unter sehr unnatürlichen Umständen gemacht: Im bereits von Anergates parasitierten Tetramorium-Volk, noch dazu mit sehr wenigen Wirtsarbeiterinnen, macht das ganze nicht direkt Sinn. Aber angeborene Verhaltensmuster laufen nicht selten auch dann ab, wenn die künstliche Situation keinen Erfolg verspricht. Dass dieses „Klammern“ überhaupt auftritt, ist schon ein starker Hinweis darauf, dass Gößwald’s Beobachtungen zutreffen!
So etwas im Freiland zu sehen, dazu gehört aber bestimmt eine ganz große Portion Glück.

Leider habe ich kein weiselloses Tetramorium-Völkchen zur Hand. Sonst wäre es wohl gut möglich, eines der begatteten Anergates-Weibchen darin adoptieren zu lassen.

A. Buschinger
Gerhard Heller
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Beitrag von Gerhard Heller »

Lieber Herr Buschinger,
das Ergreifen des Fühlers ist auch im "guten alten" Stitz erwähnt. Ich beobachtete es bei meinen Anergates jedoch nicht. Die begatteten Weibchen kugelten sich bei Kontakt mit T.-Arbeiterinnen zusammen und wurden von diesen ins Nest getragen. Das Verhalten der A.-Weibchen läuft also nicht nach einem ganz starren Schema ab.
Im Stitz ist weiterhin eine Beobachtung Crawleys zitiert, wonach ein A.-Weibchen von einer T.-Kolonie mit Königin im Kunstnest adoptiert wurde. Das adoptierte Weibchen wurde jedoch später getötet, als das Kunstnest in der Sonne stehen geblieben war und die Insassen wegen der Hitze in große Aufregung geraten waren. Ob dies ein Hinweis ist, dass die Adoption ausnahmsweise auch in weiselrichtigen Kolonien gelingen kann (s. auch Sanetra, allerdings bei einer nicht als Wirt üblichen T.-Art)?
Noch eine Frage: es liegen Beobachtungen vor, dass mehrere physogastrische Weibchen in einer Kolonie vorkommen können. Eine Möglichkeit wäre, dass dies durch Pleometrose erfolgt (Wahrscheinlichkeit dafür aber sehr gering). Die zweite, viel plausiblere Erklärung wäre, dass einige begattete Weibchen im Mutternest verbleiben. Ihre Beobachtungen zeigen ja, dass Readoption der Fall sein kann. Meine Beobachtung, wonach junge begattete Weibchen von den Arbeiterinnen des Mutternestes nicht akzepiert wurden, belegen zwar, dass auch das Gegenteil möglich sein kann, aber vielleicht wird das von den T.-Arbeiterinnen in unterschiedlicher Weise reguliert. Über den "Benefit" "Verbleib im Nest aber evtl. beseitigt werden" vs. "Ausfliegen und sein Glück in der Fremde zu versuchen" kann man wunderbar spekulieren.

Viele Grüße
G. Heller
Buschinger
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Zur Koloniegründung von Anergates

Beitrag von Buschinger »

Lieber Herr Heller,

Ich hatte das Gößwald-Bändchen hauptsächlich als relativ leicht zugängliche Literatur erwähnt (wer besitzt schon den „Stitz“?).

Stitz und die von ihm zitierten alten Autoren haben leider auch einige mehrdeutige Berichte geliefert. So soll die Eiablage von Anergates laut Wheeler „mehrere Monate nach dem Eindringen“ in das Wirtsnest erfolgen. Nach meinen Beobachtungen (im Schmidt-Buch referiert) dauert das knapp drei Wochen. Das „Fühlerklemmen“ habe ich bisher auch nur einmal gesehen, aber über längere Zeit. Ob es so regelmäßig vorkommt??? – Dieses Weibchen wird übrigens immer dicker!

Ich denke, Gößwald hat das Fühlerklemmen schon 1932 in seiner Dissertation erwähnt; finde aber mein Exemplar der Arbeit im Moment nicht.

Pleometrose: Bei Anergates wurde Polygynie doch recht oft beobachtet, so dass "fakultative Polygynie" als erwiesen gelten kann. Für Pleometrose spricht eine meiner Beobachtungen, wo sich drei gleichartig physogastrische, noch junge Weibchen in einem Tetramorium-Nest ohne irgendwelche Brut außer frisch gelegten Anergates-Eiern befanden. Bei Rück-Adoption hätte ich in diesem Fall noch vorhandene weitere Anergates-Larven erwartet (auch in meinem derzeitigen Aufzucht-Nest sind neben der ein wenig physogastrischen Jungkönigin sowie jungen Geschlechtstieren und Puppen noch Larven vorhanden).

Ein weiteres, m.E. wichtigeres Argument:
Ein weiselloses Tetramorium-Volk kann ja nur noch seine Arbeiterinnen allmählich verlieren. Nach Aufzucht einer ersten Generation von Anergates (vielleicht in 2 oder 3 Bruten in 2 Jahren) dürfte der „Wert“ der verbleibenden Arbeiterinnen gegen Null tendieren.
Im Stitz heißt es am Ende des Abschnitts über Anergates:
„Tetramorium-Kolonien erreichen ein Alter von 4-5 Jahren, und mit ihrem Eingehen stirbt dann auch ihre Anergates-Bevölkerung aus“. – Vermutlich sind weisellose Tetramorium gemeint. Ich bezweifle aber, dass die Arbeiterinnen wirklich 4-5 Jahre durchhalten: Forschungsbedarf!

Wie weit die jungen Anergates-Weibchen fliegen, wissen wir nicht. Manchmal anscheinend recht weit, im Kilometer-Bereich.
Andere werden vielleicht relativ nahe am Mutternest landen, in einem Bereich, in dem noch vielleicht 1 oder 2 pro Quadratmeter landen können. Befindet sich da zufällig ein passendes Tetramorium-Nest, kann ich mir gut vorstellen, dass dieses mehrere Anergates gleichzeitig aufnimmt.

Crawley führt das Scheitern der Adoption im weiselrichtigen Tetramorium-Nest auf Sonnenwärme zurück. War das wirklich die Ursache?
Den Fund von Sanetra kenne ich natürlich: Sizilien, 17. Mai 1993, bei Tetramorium diomedeum. Neben vielen bereits Eier legenden Anergates, die leichte Physogastrie zeigten, war Geschlechtstierbrut der Wirtsart (wohl Puppen?) im Nest. – Ein wichtiger Einzelfund, der m.E. aber noch nicht zu interpretieren ist.

Jedenfalls: Manches ist noch offen, anderes widersprüchlich. Stückchen für Stückchen wird ein Gesamtbild entstehen.
A. Buschinger
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Tiefe Blicke in die Innereien von Anergates atratulus

Beitrag von Buschinger »

Heute mussten noch zwei weitere Weibchen seziert werden um ihren Begattungszustand zu prüfen. Da sie nun schon mal auf dem Operationstisch lagen, nutzte ich die Gelegenheit, mir auch mal die Flugmuskulatur im Thorax anzusehen.
Als sehr gute Flieger müssen sie eigentlich eine kräftige Muskulatur haben, an der auch die übliche Querstreifung zu sehen sein sollte (>google „quergestreifte Muskulatur“).
Gleichzeitig habe ich daran gebastelt, eine verlässliche Größenangabe in die Bilder einzukopieren.

Bild 1 zeigt ein so genanntes Okularmikrometer. Über eine Länge von 1 cm sind 100 Teilstriche aufgetragen; der Abstand von 2 Teilstrichen beträgt also jeweils 1/10 mm oder 100 µ („mü“ = Mikrometer = ein millionstel Meter). Zwecks Übersichtlichkeit ist nach jeweils 5 Abständen ein größerer Strich, und nach 10 Abständen (= 1 mm) ein noch größerer mit einer Ziffer angebracht, hier die 5. Das Mikrometer wurde nun als Objekt unter dem Mikroskop fotografiert, bei einer Objektivvergrößerung von x 3.2. Die Kamera vergrößert weiter. Mit einem Lineal vor dem Bildschirm können Sie ausmessen, um wieviel vergrößert Sie einen Abstand sehen, und um wieviel vergrößert Ihnen das ganze Objekt erscheint. Bei Bild 1 komme ich auf eine Vergrößerung des thumbnails von 60 mal; klickt man das Bild größer, sieht man es 190 mal vergrößert.
(wenn ich richtig gerechnet habe :( ).

Bild 2: Hier ist ein Stückchen Flugmuskulatur fotografiert, mit einem Objektiv von x 25. Die beiden Balken darunter entsprechen zwei Teilstrichen des Mikrometers, das Muskelstückchen hat also etwa 1/10 mm Länge. Andeutungsweise ist bereits eine Querstreifung zu erkennen. Die fädigen Gebilde sind terminale Tracheen, die für die Sauerstoffversorgung der Muskeln sorgen.

Bild 3: Wir vergrößern nochmals stärker, mit einem Objektiv x 100. Die Objektivlinse wird dabei mit einem Tropfen eines speziellen Öls mit dem Deckglas des Präparats verbunden ("Immersion"). Der Ausschnitt ist nun so winzig, dass ein Teilstrich des Mikrometers bereits wie ein Balken das Bildfeld abdecken würde. Jetzt ist die Querstreifung („Geldrollenstruktur“; quer zur Verlaufs- und Kontraktionsrichtung der Muskelfasern deutlich zu sehen; die Fasern verlaufen auf dem Bild von oben nach unten. Auch zwei hauchdünne Tracheen sind zu sehen.

Bild 4: Zufällig war ein Stückchen Cuticula von dem Tier mit ins Präparat geraten. Die mit Binokular bei etwa 25-facher Gesamtvergrößerung gerade erkennbare feine Punktierung stellt sich hier mit dem x 25 Objektiv als ein Wabenmuster von polygonalen Vertiefungen dar. Rechts unten und halbrechts sind zwei zarte Härchen zu erahnen.

A. Buschinger
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Bild 4: Ein Stück Cuticula des Anergates-Weibchens bei Objektiv x25. Die feine Punktierung wird zur Wabenstruktur.
Bild 4: Ein Stück Cuticula des Anergates-Weibchens bei Objektiv x25. Die feine Punktierung wird zur Wabenstruktur.
Bild 3: Muskelfasern bei Objektiv x100, Ölimmersion. Querstreifung deutlich.
Bild 3: Muskelfasern bei Objektiv x100, Ölimmersion. Querstreifung deutlich.
Bild 2: Muskelfasern bei Objektiv x25; Abstand der beiden Balken 1/10 mm.
Bild 2: Muskelfasern bei Objektiv x25; Abstand der beiden Balken 1/10 mm.
Bild 1: Das Mikrometer, mit Objektiv x3.2 aufgenommen. Der Abstand zweier Teilstriche beträgt 1/10 mm.
Bild 1: Das Mikrometer, mit Objektiv x3.2 aufgenommen. Der Abstand zweier Teilstriche beträgt 1/10 mm.
Buschinger
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Anergates: Inzucht und Geschlechtsbestimmung

Beitrag von Buschinger »

Anergates: Inzucht und Geschlechtsbestimmung

„Schmidi“ hat mich per mail dazu gefragt, und ich stelle die Antwort hier mal ein, da das Thema sicher andere auch interessiert.

Frage:

Wie sieht denn der Lebenszyklus der Anergates aus?
Ich frage mit folgendem Hintergrund: Wenn eine frisch begattete Anergates-Königin ein Wirtsnest findet, dort ihre Söhne und Töchter fröhlich miteinander kopulieren, dann ist das ja Inzest in Reinform. Nicht dass mir Inzest in der Natur völlig fremd wäre, aber ausschließlicher Inzest - dass über Generationen hinweg nur Brüderchen mit Schwesterchen ... und auch deren Nachfahren wieder nur Brüderchen mit Schwesterchen, ... ganz ohne Genvermischung - ist das möglich? Oder habe ich da etwas falsch verstanden? Sind die Männchen denn grundsätzlich flügellos, so dass Begattung im Nest von der Natur aus vorgesehen ist?

Antwort:

Ein oder mehrere begattete Jungweibchen gelangen in ein Wirtsnest. Inzwischen halte ich es für sehr sicher, dass dies ein Tetramorium-Volk ist, welches seine Königin bereits verloren und deren restliche Brut aufgezogen hatte. (Über eine aktive Beseitigung der Wirtskönigin wurde und wird noch spekuliert).

Gesichert ist auch, dass Polygynie vorkommt (mehrfach 4 Anergates-Weibchen beobachtet), wobei allerdings sehr wahrscheinlich die mehreren Weibchen aus einem nahe gelegenen Anergates-Nest stammen dürften. also wiederum Schwestern sind. Gelegentlich, aber vermutlich (!) selten, könnten Weibchen aus verschiedenen Stammnestern Aufnahme in einem neuen Wirtsvolk finden. Damit wäre ein (sehr eingeschränkter) Genaustausch möglich.

Die Männchen sind alle flügellos und, wie in den Abbildungen gezeigt, puppenähnlich, plump und wenig beweglich.

Es kann also ausschließlich zu Geschwisterbegattungen kommen, zumindest wenn nur eine Anergates-Königin im Nest ist.
Bei mehreren Arten von „degenerierten Sklavenhaltern“ der Gattung Myrmoxenus (früher Epimyrma) ist die permanente Inzucht noch stärker etabliert. Da diese Arten streng monogyn sind und auch ähnlich wenige Männchen produzieren wie Anergates, kann es nur zu Geschwisterbegattung kommen.

Das Problem ist nicht die Inzucht selbst. Bei forcierter Inzucht in der Haltung beobachtet man zunächst eine „Inzuchtdepression“, bedingt dadurch, dass schadhafte Allele bestimmter Gene (die in jedem Organismus, auch bei uns, in Vielzahl vorhanden sind!) häufig in ein- und dasselbe Individuum gelangen. In der „doppelten Dosis“ wird die Schadwirkung evident, die Träger solcher schadhafter Gene gehen meist zugrunde oder bleiben ohne Nachwuchs. Damit werden im günstigen Fall die schadhaften Gene in der Population ausgemerzt, am Ende steht eine Fortpflanzungsgemeinschaft, in der die optimalen Gene in jedem der dann genetisch perfekten Individuen vorhanden sind.
Eine solche Fortpflanzungsgemeinschaft („Art“ oder auch „Linie“) kann dann über lange Zeit wieder ganz normal leben (in der Rassetierzucht macht man sich das zunutze!). Bei den Pharaonen, wo Geschwisterehe erzwungen wurde, entstand so u.a. die Nofretete!

Das eigentliche Problem bei Ameisen (allgemein bei Hymenopteren) ist die Geschlechtsbestimmung: Normalerweise muss mindestens ein Gen in Form unterschiedlicher Allele (z.B. a1 und a2) in einem Ei zusammen vorliegen, um die Entwicklung einer weiblichen Larve zu ermöglichen. Ist nur eines dieser Allele vorhanden (a1 oder a2; Ei unbefruchtet) gibt es ein haploides, gesundes Männchen.
Ist dasselbe Allel im befruchteten Ei doppelt vorhanden (a1 und a1, oder a2 und a2, wie das bei Geschwisterbegattung leicht möglich wird), entstehen häufig diploide Männchen, die ganz oder teilweise unfruchtbar sind. (Bei Harpagoxenus habe ich das persönlich untersucht; bei Honigbienen ist es seit Dzierzon im 19. Jh. bekannt).

Wie umgehen die permanent inzüchtenden Ameisen dieses Problem? Wie schaffen sie es, überhaupt weiblichen Nachwuchs zu bekommen? In den befruchteten Eiern müssten alle geschlechtsbestimmenden Allele in identischer Form vorliegen, alle befruchteten Eier müssten sich zu diploiden Männchen entwickeln. Das geht natürlich nicht.

Dieses Problem ist ungelöst! Nur so viel ist bisher zu sagen: Die betreffenden Arten müssen ein abgewandeltes Verfahren der Geschlechtsbestimmung „erfunden“ haben. Nach wie vor gilt aber: Männchen sind haploid und Weibchen diploid. Das haben wir bei unseren Myrmoxenus-Beispielen nachgewiesen.

A. Buschinger
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Der Schluss.....

Beitrag von Buschinger »

Sieben Männchen konnten fixiert werden, für die histologische Aufarbeitung. Vielleicht enthüllt diese Untersuchung Neues über ihr „Innenleben“ vor einer bzw. nach mehreren Begattungen.
Das Versuchsvölkchen wurde nun aufgelöst. Die Wirts-Arbeiterinnen reisen nach Wien, wo man herausfinden wird, welcher der unter Tetramorium caespitum und T. impurum versteckten Arten sie angehören.

Von den im Nest entstandenen Jungweibchen sind viele bei dem vergeblichen Versuch, zum Ausbreitungsflug zu starten, im Paraffinöl verklebt. Immerhin: Von 22 sezierten Weibchen waren 17 begattet. Bei der Zahl der insgesamt beobachteten Männchen muss also auf alle Fälle jedes mehrere Weibchen begattet haben.

Eines der letzten Männchen schien am 26.1.06 dem Tode nahe. Ich habe es seziert. Es hatte jederseits eine Gruppe von Hodenschläuchen oder –vesikeln, so wie das bei vielen Ameisen der Fall ist (Bild 1). Die Samenleiter, sonst bei reifen Männchen prall gefüllt mit Sperma, erschienen eher dünn.

Aber beim Mikroskopieren traten aus den noch recht prallen Hodenschläuchen selbst jede Menge sogar noch beweglicher Spermien aus! (Bilder 2 und 3). Das ist schon mal deutlich anders als bei „normalen“ Ameisenmännchen, deren Hoden bereits vor der (ersten) Kopula geschrumpft und „leer“ sind, jedenfalls keine Spermien mehr enthalten. So kann man mit dieser „einfachen“ Präparation schon in etwa abschätzen, was die – viel genauere und aussagekräftigere - histologische Aufarbeitung dann bringen wird.

Das physogastrische Weibchen

Am 27.01.06 war auch das bereits erwähnte leicht physogastrische Weibchen wohl gerade gestorben. Da auch die wenigen noch verbliebenen Larven nicht weiter wuchsen oder sich verpuppten, nehme ich an, dass einfach die Zahl der Wirtsarbeiterinnen zu gering geworden war. Und nach der Aufzucht so vieler Anergates-Weibchen und –Männchen waren sie vielleicht auch erschöpft.

Bild 4 zeigt das angeschwollene Weibchen.
Natürlich nutzte ich die Gelegenheit, auch ihr mal unter die Cuticula zu sehen.
Begattet war sie, wie zu erwarten, und die Spermien waren schön parallel zur Außenwand der Spermatheka ausgerichtet. So sieht man das bei kleinen Ameisen eigentlich immer (Bild 5).

(Fortsetzung im nächsten post)
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Bild 5: Die Spermatheca dieses Weibchens. Die Spermien liegen als fädige Strukturen der Außenwand an. Wenn die Spermatheka ganz frisch präpariert ist, sieht man das Sperma darin &quot;Karussell fahren&quot;, es ist in kreisender Bewegung.
Bild 5: Die Spermatheca dieses Weibchens. Die Spermien liegen als fädige Strukturen der Außenwand an. Wenn die Spermatheka ganz frisch präpariert ist, sieht man das Sperma darin "Karussell fahren", es ist in kreisender Bewegung.
Bild 4: Das leicht physogastrische Weibchen. An der Gaster-Seite ist die weißliche Intersegmentalhaut zwischen den dunklen Skleriten erkennbar. Das Tier ist knapp 3 mm lang.
Bild 4: Das leicht physogastrische Weibchen. An der Gaster-Seite ist die weißliche Intersegmentalhaut zwischen den dunklen Skleriten erkennbar. Das Tier ist knapp 3 mm lang.
Bild 3: Bei stärkerer Vergrößerung sieht man die inzwischen im Wasser kugelförmig angeschwollenen Spermienköpfe.
Bild 3: Bei stärkerer Vergrößerung sieht man die inzwischen im Wasser kugelförmig angeschwollenen Spermienköpfe.
Bild 2: Bei leichtem Druck tritt Sperma aus einem der Vesikel aus. Unter geringer Vergrößerung sind nur fädige Strukturen erkennbar.
Bild 2: Bei leichtem Druck tritt Sperma aus einem der Vesikel aus. Unter geringer Vergrößerung sind nur fädige Strukturen erkennbar.
Bild 1: Die drei Hodenschläuche (Vesikel) einer Seite. Insgesamt sind es 6 Vesikel.
Bild 1: Die drei Hodenschläuche (Vesikel) einer Seite. Insgesamt sind es 6 Vesikel.
Zuletzt geändert von Buschinger am 03. Feb. 2006, 17:09, insgesamt 1-mal geändert.
Buschinger
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Fortsetzung vom vorhergehenden Eintrag

Beitrag von Buschinger »

Wegen der upload-Begrenzung auf 5 Bilder setze ich den Bericht in einer neuen Antwort fort:

Die beiden Ovarien bestehen aus jeweils etwa 40 Eischläuchen (Ovariolen), für ein so kleines Tierchen recht viel. Bild 6 zeigt eines der beiden büschelförmigen Ovarien. Aber so ist die geradezu unmäßige Physogastrie der voll fertilen Anergates-Königinnen verständlich.

Das Ende (oder besser der Beginn) einer Ovariole ist nur etwas erweitert. In diesem „Germarium“ entstehen die Keimzellen (Eizellen) und die jeweils zugehörigen Nährzellen (Bild 7). Sie wandern dann unter Heranwachsen der Eizellen die Eiröhre hinab zum Eileiter (paarig). Nach deren Mündung in die Vagina erfolgt die Besamung der Eier aus der Spermatheca, anschließend die Eiablage.

Viele der Ovariolen enthielten bei unserem Weibchen nur zahlreiche gleichartige Zellen, eine Mischung aus eigentlichen, noch sehr kleinen Oozyten (Eizellen) und den Nährzellen (Bild 8), so wie sie vom „Germarium“, der eigentlichen Keimzone an der Spitze der Ovariole, in den Schlauch entlassen werden. In wenigen der Ovariolen war aber bereits jeweils eine heranwachsende Eizelle zu erkennen (Bild 9). Sie wird zum Teil von den zugehörigen Nährzellen ernährt und v.a. mit RNS (Ribonucleinsäure; wichtig für die Synthese der Dotterproteine) versorgt. – Das Tierchen war also noch ein paar Tage entfernt von einer Eiablage.
Der angeschwollene Hinterleib (Bild 4) war nur zum Teil den angewachsenen Ovarien zuzuschreiben, sie hatte auch einen sehr stark gefüllten Mitteldarm (Individualmagen).

Das kleine Nestfragment hat also nicht nur wunschgemäß ein paar Männchen aufgezogen. Es hat eine ganze Reihe weiterer Mosaiksteinchen zum Lebenszyklus der so seltenen „Arbeiterlosen Parasitenameise“ beigetragen, weit mehr als ich seinerzeit im Urlaub, auf der Moosalm beim Einsaugen der Tierchen, zu hoffen gewagt hätte!

A. Buschinger
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Bild 9: Eine Ovariole, in der eine bereits heranwachsende Eizelle (Oozyte) entstanden war.
Bild 9: Eine Ovariole, in der eine bereits heranwachsende Eizelle (Oozyte) entstanden war.
Bild 8: In den meisten Ovariolen waren bei dem noch jungen Weibchen nur schwer unterscheidbare, kleine Zellen erkennbar.
Bild 8: In den meisten Ovariolen waren bei dem noch jungen Weibchen nur schwer unterscheidbare, kleine Zellen erkennbar.
Bild 7: Einige Ovariolen stärker vergrößert. Am leicht erweiterten Ende befindet sich das Germarium.
Bild 7: Einige Ovariolen stärker vergrößert. Am leicht erweiterten Ende befindet sich das Germarium.
Bild 6: Eines der beiden Ovarien. Es umfasst rund 40 Ovariolen.
Bild 6: Eines der beiden Ovarien. Es umfasst rund 40 Ovariolen.
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Neue Anergates-Bilder von Marek Borowiec

Beitrag von Buschinger »

http://www.ameisenwiki.de/index.php/Anergates_atratulus

Hier habe ich drei neue von Marek Borowiec aufgenommene Auto-Montage-Bilder eines Anergates-Weibchens eingestellt. Sie sind atemberaubend schön!

Viele Grüße,
A. Buschinger
!!! EINHEIMISCHE HAUSAMEISEN SIND KEINE SCHÄDLINGE per se !!! - Sie nutzen nur Baufehler bzw. Bauschäden zur Anlage ihrer Nester. Dies ist anders bei Exoten wie Pharaoameise, Pheidole spp. usw..
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Immer wieder ein bemerkenswerter Fund: Anergates atratulus

Beitrag von Buschinger »

Ein paar Tage Urlaub in Aosta (Italien, nahe Montblanc) führten mich letzte Woche u.a. im Valpelline auf eine Bergwiese in 2100 m Höhe.

Obwohl ich kaum noch Ameisen sammle, kann ich es nicht lassen, doch manchmal, ganz selten mal, unter eine Steinplatte zu schauen :). Und völlig überraschend traf ich auf ein Nest der seltenen „Arbeiterlosen Parasitenameise“ Anergates atratulus!

Zwar waren nur Arbeiterinnen der Wirtsart Tetramorium sp. zu sehen, aber ich kenne die winzigen Puppen, so dass der Fall sofort klar war. Die Puppen waren noch weiß, und es fanden sich auch noch Vorpuppen darunter.
Ich nahm eine kleine Probe mit, und bis heute, innerhalb von 6 Tagen bei Zimmertemperatur, sind bereits einige Weibchen und Männchen geschlüpft.
Das Bild ist durch ein Binokular gemacht (bitte anklicken!).

Die Männchen dieser Art sind „pupoid“, ungeflügelt, nur schwach pigmentiert und ziemlich unbeholfen. Das obere der beiden gekennzeichneten Männchen, in Seitenansicht, ist aber bereits bemüht, mit einer Weibchenpuppe zu kopulieren! Das klappt natürlich nicht, aber bald wird sie ja schlüpfen.
Falls nur eine Anergates-Königin im Nest lebt, verpaaren sich hier obligatorisch Geschwister. Selten wurden bis zu 4 Königinnen in einem Nest gefunden, meist ist es nur eine.
Die Weibchen haben auffallend große Flügel. Nach der Begattung im Mutternest fliegen sie ab, nach einigen Beobachtungen sogar über beträchtliche Strecken bis mehrere Kilometer. Erst dann werfen sie die Flügel ab.
Sehr wahrscheinlich müssen sie eine bereits weisellose Wirtskolonie finden, die auch keine eigene Brut mehr hat: Noch nie wurde in einem Nest mit A. atratulus Brut der Wirtsart gefunden. Tetramorium-Arbeiterinnen haben keine Ovariolen und legen deshalb niemals Eier.

Ein weiterer Bericht über diese faszinierende Art ist hier zu finden:
http://www.ameisenwiki.de/index.php/Anergates_atratulus

A. Buschinger
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