Ameisen und Neonicotinoide (systemische Insektizide)

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myrmarachne
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Ameisen und Neonicotinoide (systemische Insektizide)

Beitrag von myrmarachne »

In letzter Zeit wird im Zusammenhang mit dem allgemeinen Insektensterben häufig auf die Pestizidgruppe der Neonicotinoide hingewiesen. Mit einigen Bekannten wollen wir der Frage nachgehen, ob und wie sich diese Gifte (bzw. auch mögliche andere Ursachen für den immensen Rückgang an Arten und Individuen) auf die Ameisenpopulationen auswirken.

Es gibt mehrere Gründe, die dafürsprechen, gerade diese Insektenfamilie in den Blick zu nehmen:

1. Ameisen sind vielen gut bekannt und das Vorkommen der Arten, die große Staaten bilden, ist leicht festzustellen. So wäre ein von vielen Privaten mitgetragenes "Monitoring" ohne akademischen Sonderforschungsbereich möglich, das immerhin helfen könnte, eine ungefähre Tendenz zu erkennen. Dabei würden selbstverständlich mehrere Arten einbezogen. - Oder gibt es bereits Studien in diese Richtung? Ich habe sie im Netz nicht gefunden.

2. Veterinärmedizinische Untersuchungen zum Giftgehalt toter Insekten erfordern Mindestmengen, für die man bei Wildbienen und kleineren Käfern viele Stunden, wenn nicht Tage lang sammlen muß. Die Feststellung eines rapid absterbenden individuenreichen Ameisenstaats könnte (so vermuten wir jedenfalls und hoffen auf erfahrene Auskunft) es erlauben, schneller an erforderliche Mengen toter Tiere zu kommen. Auch wäre die Aussage im Fall eines "positven" Befundes belastbarer, da es um ein und dieselbe Art ginge.
3. Ameisen leben vom Eintragen ihrer Nahrung (und ihres Baumaterials) aus einem verhältnismäßig engen Bereich. Dadurch wäre eine genauere Lokalisierung von (evtl. unerlaubten) Gifteinsätzen möglich.

4. Ameisen stehen systematisch (Hautflügler) und als Staatenbildende gerade den Insekten nahe, bei denen die Wirkungen der Neonikotinoide - u.a. Orientierungsverlust - am besten erforscht sind, nämlich Wespen und Bienen. Es besteht also der Verdacht auf vergleichbare Auswirkungen. Auch die konzentrierte Verwertung toter Insekten im "Superorganismus" Ameisenbau legt die Vermutung nahe, daß Ameisen von Pestiziden besonders stark betroffen werden. Auch hier: Gibt es Studien?

5. Außerdem haben sie mit den Lauf- und vielen anderen Käfern das Leben am Boden gemeinsam - und gerade bei diesen Käfern werden besonders drastische Ausfälle verzeichnet, als deren Ursache die Neonicotinoide (mit) im Verdacht stehen.

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Wenn die Vermutung zutrifft, daß der Fokus auf Ameisen bei der Erforschung möglicher Auswirkungen der Neonicotinoide im Naturhaushalt besonders deutliche Ergebnisse verspricht, dann könnte im Fall der Bestätigung eine solche Arbeit helfen, weitere Grundlagen für ein Vorgehen gegen diese und ähnliche Stoffe zu gewinnen. Die Zusammenarbeit vieler, die sich auskennen und die am Fortbestand jener Tiere, von denen sie doch fasziniert sind, gelegen sein muß, wäre dazu erforderlich. Und jeder weiß heute, daß die Zeit drängt.

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Dieser Beitrag stellt Fragen (mit Bitte um Auskunft) und ist zugleich ein Appell. Wir kennen uns mit Ameisen nicht gut aus, sind vielmehr an einer möglichst breiten Vernetzung von Erkenntnissen aller entomologischen Bereiche interessiert. Sehr hilfreich wären auch ein oder zwei Ansprechpartner, die schon einen Überblick zu Fragen des Ameisenschutzes - über die Rote Waldameise hinaus - haben.
Buschinger
Beiträge: 1487
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Re: Ameisen und Neonicotinoide (systemische Insektizide)

Beitrag von Buschinger »

Hallo Myrmarachne,

ich versuche mich mal an ein paar Antworten.

-Ihre fünf Punkte lesen sich durchaus bedenkenswert. Allerdings sehe ich einige Probleme:

-Kennen Sie Adressen, wo veterinärmedizinische Untersuchungen gemacht werden können, ohne dass erhebliche Finanzmittel aufgebracht werden müssen?

- „Die Zusammenarbeit vieler, die sich auskennen und die am Fortbestand jener Tiere, von denen sie doch fasziniert sind, gelegen sein muß, wäre dazu erforderlich.“ > Dazu könnte es sinnvoll sein, sich an die Ameisenhalter in ihren verschiedenen Foren zu wenden. Das sind überwiegend junge Leute, während viele Mitglieder der DASW in höherem Alter sind und kaum noch umfangreiche Freilanduntersuchungen durchführen können.

Es gibt zudem facebook-Gruppen, in denen über die Hobby-Haltung von Ameisen diskutiert wird. Ich bin nicht bei fb, kann also dazu nichts Genaues sagen.
Ich muss gleich einschränken: In mehreren Ameisenforen, in denen ich tätig war, haben Aufrufe zur Zusammenarbeit nur sehr selten und kurzfristig eine Wirkung gezeigt. Zudem gibt es da nur sehr wenige „User“ mit entsprechender Artenkenntnis.

-Aus eigener Erfahrung: Es ist leider nicht einfach, Auswirkungen von negativen Einflüssen auf Ameisen auch nur qualitativ oder semiquantitativ nachzuweisen. So ließ ich 1993 eine Diplomarbeit anfertigen über die Auswirkungen von Dimilin auf Ameisen im Forst. Da man prozentuale Rückgänge der Arbeiterinnen-Anzahl bei den großen Völkern der Waldameisen nicht messen kann, wurden die übersichtlichen Völkchen von Temnothorax nylanderi gewählt (sie leben in hohlen Eicheln oder Ästchen und sind selten über 150 Arbeiterinnen groß. Auch findet man oft 2-3 Völkchen auf 1 qm). –
Es war dennoch ein beträchtlicher Aufwand, den vermutlich niemand freiwillig auf sich nimmt!
Buschinger,A. (1993): Schwammspinner, Bacillus thuringiensis, Dimilin und Ameisen. Ameisenschutz aktuell 7, 81-84.

Ein Hinweis: http://www.ameisenportal.eu/viewtopic.php?f=31&t=1142 (Sept. 2015: „Wo sind Igel, Fluginsekten und Schnecken geblieben?“ – Heute heißt das das „Windshield phenomenon“, und es ist ein Indikator für den generellen Rückgang der Insekten.

Eine letzte Frage: Wer ist „wir“? – Ich weiß gerne, mit wem ich zu tun habe, bevor ich mich in einer solchen Angelegenheit engagiere, und das geht wohl auch anderen so. (Es gibt hier eine Möglichkeit zum nichtöffentlichen Austausch persönlicher Nachrichten).

MfG,
A. Buschinger
!!! EINHEIMISCHE HAUSAMEISEN SIND KEINE SCHÄDLINGE per se !!! - Sie nutzen nur Baufehler bzw. Bauschäden zur Anlage ihrer Nester. Dies ist anders bei Exoten wie Pharaoameise, Pheidole spp. usw..
myrmarachne
Beiträge: 2
Registriert: 21. Jun. 2017, 16:35

Re: Ameisen und Neonicotinoide (systemische Insektizide)

Beitrag von myrmarachne »

Sehr geehrter Herr Buschinger,

Vielen Dank für Ihre rasche Antwort! - Eben um solche Bedenken von Menschen aus der Praxis ging es mir.

Zunächst: Entschuldigen Sie, daß ich meine Anfrage nicht mit Namen unterzeichnet hatte, ich bin mit Internet-Foren noch nicht vertraut und hatte nicht bedacht, daß bei der Anmeldung keine Angaben erhoben wurden. (Bei Facebook bin ich auch nicht).

Ich bin Johannes Herlyn, Antiquar aus Freiburg, als Laie mit Käfern und Spinnen beschäftigt.

"Wir" meint im besonderen einen Bekannten (Siegfried Mattausch), der sich in der Sache Insektensterben / Neonicotinoide sehr engagiert und u.a. Mitinitiator eines offenen Briefes ist, den der FREAK (Freiburger Entomologischer Arbeitskreis) an Ministerpräsident Kretschmann und andere gesendet hat (gezeichnet von Frank Baum und Wolfgang Pankow). Der Brief ist einzusehen u.a. unter

http://www.bund-rvso.de/insektensterben ... brief.html

Diesen FREAK und einzelne andere, z.B. aus dem BUND und NABU im Freiburger Umfeld, habe ich mit "wir" im allgemeineren auch noch gemeint.

Vorläufig zu zwei Punkten:

- Untersuchungen würden (wenn denn Material vorhanden) etwas kosten, aber darum würden wir uns in überschaubarem Rahmen kümmern können.

- Das hohe Durchschnittsalter interessierter Entomologen kenne ich tatsächlich aus dem FREAK, es ist im gegebenen Zusammenhang wenig ermutigend. Herr Mattausch hatte (zusammen mit Klaus Geiß) große Mühe, dort etwas in Bewegung zu setzen. Auch das schnelle Versiegen von Aktionen habe ich kennengelernt. Dennoch wollen wir versuchen, anhand verschiedener Artengruppen aussagekräftige Daten zusammenzubringen. Vielleicht läßt sich sogar über die großen Naturschutzverbände etwas erreichen.

Vielen Dank noch einmal für die hilfreichen, im Blick auf Ameisen erst einmal bremsenden Hinweise!

Mit freundlichen Grüßen, Johannes Herlyn
Buschinger
Beiträge: 1487
Registriert: 26. Apr. 2004, 12:34
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Re: Ameisen und Neonicotinoide (systemische Insektizide)

Beitrag von Buschinger »

Lieber Herr Herlyn,

Es tut mir Leid, dass hier keine weitere Antwort gekommen ist. Das dürfte aber dadurch begründet sein, dass einfach niemand eine Möglichkeit sieht, sich aktiv einzubringen.
Vielen Dank auch dafür, dass Sie sich und den Arbeitskreis FREAK hier vorgestellt haben!
Ihre Worte und auch der Inhalt des "Offenen Briefes" sprechen mir aus der Seele! Ich werde den "Offenen Brief" auf jeden Fall weiteren evtl. Interessierten zur Kenntnis bringen.
Falls es Reaktionen von den Adressaten des Briefes gibt, wäre es schön, wenn wir darüber informiert werden könnten. Es ist ja schon gut zu wissen, dass überhaupt etwas unternommen oder wenigstens angestoßen wird!

Mit freundlichen Grüßen und besten Erfolgswünschen,
Ihr A. Buschinger
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