Der "Neue Seifert" und Polyergus rufescens

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Boro
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Der "Neue Seifert" und Polyergus rufescens

Beitrag von Boro »

Das Studium des Kapitels über Polyergus rufescens im "Neuen Seifert" hat mich veranlasst, einige Fragen aufzuwerfen.
Ich schreibe in diesem Forum, weil mir bekannt ist, dass hier Experten mitarbeiten, die mir beim Lösen einiger Probleme wahrscheinlich behilflich sein können.
1. In der neuen Ausgabe findet sich auf S. 331 folgender Satz:
"Sklaven-Arbeiterinnen können die Raubzüge begleiten, gegen Arbeiterinnen des angegriffenen Nestes Tötungskämpfe führen und den Rücktransport der Beute unterstützen"
Nun, ich habe in den letzten 10 Jahren bestimmt über 200 Raubzüge der Amazonen bei etwa 2 Dutzend Polyergus-Nestern beobachten können und glaube doch, dass ich mich da gut auskenne. Aber ich konnte kein einziges Mal - auch nicht ansatzweise - ein Mitlaufen von Serviformica-Arbeiterinnen feststellen. Ich bin vielmehr zur Ansicht gelangt, dass die Sklavenameisen den Pheromon-Botschaften der Amazonen zwar mit einiger Aufregung, im wesentlichen aber mit absoluter "Ratlosigkeit" gegenüberstehen.
Jetzt würde es mich natürlich interessieren, ob einer unserer Fachleute jemals die von Dr. Seifert geschilderte Vorgangsweise beobachten konnte oder jene Literatur kennt, auf die sich der Autor bezieht.

2. Intermorphe-Ergatomorphe-Gynomorphe
In jedem größeren Nest von Polyergus rufescens kommen etliche Gynomorphe vor, die von den schwärmenden Königinnen im Habitus abweichen. Dies scheint geradezu typisch für Polyergus-Nester zu sein. Ich hatte doch gehofft, dass im Neuen Seifert dieses Phänomen aus verständlichen Platznöten wenigstens erwähnt wird.
Hier scheinen bereits die Begriffe nicht zu stimmen, denn diese Tiere sind wohl kein Zwischenstadium zwischen Vollweibchen und Arbeiterin und sie sind auch im Körperbau nicht mit einer Arbeiterin (Kriegerin) zu verwechseln. Ich verwende daher den in diesem Fall wahrscheinlich auch zu allgemeinen Begriff "Gynomorphe".
Rein äußerlich betrachtet handelt es sich eindeutig um Vollweibchen, sie sind mitunter etwas kräftiger gebaut als ihre "normalen" Geschwister. Sie sind grellrot gefärbt und flügellos.

Ein Link zu den Fotos:
http://ameisenforum.de/einheimische-eur ... fotos.html

a) Hier ergibt sich die Frage nach der Ausfärbung.
Polyergus-Weibchen sind in der Regel dunkelrot/rotbraun bis braunrot gefärbt, erst nach erfolgreicher Nestgründung machen alle Königinnen den Farbwechsel durch. Ich konnte dies auch in einem weisellosen Nest beobachten, die dort mit der Eiablage beginnenden Amazonen wechselten in einigen Tagen die Farbe. Es liegt die Vermutung nahe, dass es mit der Aktivierung der Ovarien zusammenhängt.
b) Diese Königinnen treten schwerpunktmäßig vor der eigentlichen Schwärmphase auf. Sie erscheinen meist vor dem Raubzug der Amazonen auf der Nestoberfläche und schließen sich diesem meist an, um nach dem Überfall durch die Geschwister in das Sklavennest einzudringen. Sie können das eigene Nest auch wieder betreten, was die Vermutung zulässt, dass diese Königinnen gar nicht begattet sind. Denn weder die "Alphakönigin" noch die Schar der Amazonen und Sklavenameisen würden weitere begattete Königinnen im Nest dulden.
Wo kommen die Königinnen dann aber her, sind sie Erstgeborene oder sind sie vom Vorjahr (ohne Schwärmen und Begattung) "übriggeblieben"?
Wenn sie aber nicht begattet sind, warum dringen sie dann in Sklavennester ein? Ist es nur zum Training für den Ernstfall?
c) Die These, dass diese "Gynomorphen" tatsächlich nicht begattet sind, hat sich für mich zumindest in diesem Fall als richtig erwiesen:
Ich ziehe jedes Jahr 2-3 Polyergus-Nester auf, um sie dann vor dem Schlüpfen der Amazonen in ein geeignetes Habitat freizusetzen. Nach einigen Misserfolgen bin ich inzwischen mit der Freisetzung sehr erfolgreich. Im Mai 2007 konnte ich erstmals 2 Völker, die in Ytong-Steinen beheimatet waren, nach der Aussetzung noch einige Wochen beobachten (und betreuen), weil die Völker in den Steinen verblieben waren. Aber im Nest, das ich mit der grellroten "Gynomorphen" gegründet hatte, sind nur Männchen "produziert" worden. Das war ein arger Rückschlag, weil ich schon vor Jahren immer wieder die eine oder andere "Gynomorphe" zur Nestgründung herangezogen hatte. Ich hatte diese Nester nach der Freisetzung nicht mehr finden können und muss jetzt davon ausgehen, dass diese Nestgründungen Fehlschläge waren.

Nach all dem bleibt die entscheidende Frage: Welche biologische Funktion haben diese "Gynomorphen" überhaupt?
Ich würde mich sehr freuen, wenn sich einige Experten mit diesen Fragen auseinandersetzen und danke im voraus für die Mühe.
Beste Grüße von Boro
Gerhard Heller
Beiträge: 838
Registriert: 07. Jul. 2005, 12:19

Beitrag von Gerhard Heller »

Hallo Boro,

schon im Stitz wird eine Beobachtung Forels zitiert, wonach sich F. rufibarbis regelmäßig, fusca nur selten an Polyergus-Raubzügen beteiligt. Ich selbst habe seit 10 Jahren eine Polyergus-Kolonie im Garten und konnte mehrfach eine Teilnahme der Wirtsameisen (hier eine polygyne F. lusatica) verfolgen. Allerdings marschierten die Hilfsameisen nicht in der Kolonne mit, sondern "zuckelten" hinterher. Zwischen den überfallenen und den "polyerguseigenen" Formicas kam es zu Beißereien.
Zu den merkwürdigen Intermorphen wird Herr Buschinger einiges sagen, der einige Exemplare präparierte. Bei meiner Kolonie erschienen solche Tiere immer mal wieder, aber nicht in jedem Jahr. Sie wurden jeweils von den eigenen Arbeiterinnen (Polyergus!) nach einigen Tagen/Wochen (meist vor Beginn der Hochzeitsflüge) gewaltsam "entsorgt", daher auch nie eine Überwinterung. Meine Einschätzung ist, dass sie überhaupt keine spezifische Funktion haben, sondern als "Unfall" zu betrachten sind. Könnte es sein, dass sie Opfer der Labialdrüsenkrankheit sind (s. Beitrag von Herrn Buschinger in ASA 2/07)? Weshalb die Intermorphen aber regelmäßig umgebracht wurden, ist mir ein Rätsel.

Viele Grüße
G. Heller
Boro
Beiträge: 14
Registriert: 02. Sep. 2007, 10:53
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Polyergus

Beitrag von Boro »

Guten Abend Herr Heller!
Danke für die sehr interessante Antwort. Ich wusste schon, dass sie sich mit Polyergus näher befassen, da ich ihren Artikel in den Myrmecologischen Nachrichten gelesen habe.
Im Nachhinein muss ich zugeben, dass ich trotz jahrelanger Beobachtungen noch nie die Konstellation Polyergus-Formica rufibarbis oder Polyergus-Formica lusatica in der Natur vorgefunden habe, sodass ich zu Formica rufibarbis diesbezüglich nichts sagen kann.
Die mit Abstand häufigste Verbindung ergibt sich hier zwischen Polyergus einerseits und Formica fusca bzw. Formica cunicularia andererseits. Die Konstellation Polyergus-F. fusca-F. cunicularia, die in der Haltung nicht funktioniert, gibt es in der Natur aber öfter. Ich habe das auch bildlich dokumentiert und erst in diesem Sommer wieder 2 neue Nester entdecken können, die diese Mischpopulation aufwiesen.
Dass sich F. fusca an den Raubzügen beteiligt, überrascht mich sehr! In den eben erwähnten gemischen Kolonien rangieren sie in der Hierarchie ganz unten: Brutpflege und das Furagieren scheinen ihre Hauptaufgabe zu sein, während F. cunicularia augenscheinlich vorwiegend für die Bewachung der Nesteingänge und die Verteidigung zuständig ist. Hier deutet sich so etwas wie eine soziale Differenzierung an.
Keine einzige F. fusca-Arbeiterin konnte ich je bei der Verfolgung der eigenen Amazonenschar beobachten.
Wie sich die Wirtsameisen der Formica-cinerea-Gruppe verhalten, kann ich ebenfalls nicht sagen. Ich habe diese sehr seltene Verbindung vor 2 Jahren einige Wochen an einem Beispiel (jedoch ohne Bilddokumentation) beobachten können, anschließend wurde das Nest offenbar durch den Überfall eines benachbarten Amazonenvolkes vernichtet. In diesem Sommer blieb das Nest verschollen.
Ja, so viel für heute! Ich bin schon gespannt, ob man einer Lösung des Problems der Intermorphen näherkommen kann.
Mit freundlichen Grüßen Boro
Buschinger
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Beitrag von Buschinger »

Hallo Boro,

Zum Mitlaufen von Serviformica auf den Raubzügen hat ja Herr Heller schon geschrieben. Man muss auch bedenken, dass das in verschiedenen Regionen unterschiedlich sein kann. Genfluss über 1.000 und mehr km dürfte bei so seltenen und inselartig verbreiteten Arten recht eingeschränkt sein, so dass sich lokale Anpassungen entwickeln können.

Ich denke nur an Myrmoxenus (früher: Epimyrma) kraussei, „degenerierter Sklavenhalter“. Überall im Mittelmeergebiet Populationen mit wenigen (bis 5) oder mehr (bis 20) Myrmoxenus-Arbeiterinnen, auf Kreta sind sie gänzlich arbeiterinlos! Und das bei überall derselben Wirtsart Temnothorax recedens.

2. Intermorphe-Ergatomorphe-Gynomorphe
In jedem größeren Nest von Polyergus rufescens kommen etliche Gynomorphe vor, die von den schwärmenden Königinnen im Habitus abweichen….
Liegt hier evtl. eine Verwechslung von Begriffen vor?

Die Begriffe Gynomorphe, Intermorphe, Ergatomorphe haben wir vorgeschlagen (irgendwann um 1978), als uns klar wurde, dass „Königin“ zwei Bedeutungen haben kann: Die geflügelte, nach Begattung entflügelte Vollweibchenform (= Gynomorphe) und das begattete, befruchtete Eier legende Tier, das eben nicht immer gynomorph ist, sondern je nach Ausprägung als „ergatoide Königin“ u.a. bezeichnet wurde und morphologisch irgendwo zwischen der Gynomorphen und der Ergatomorphen (= „normale“ Arbeiterin) steht (bzw. sogar ganz ergatomorph sein kann).

Alle Zwischenformen haben wir unter „Intermorphen“ subsumiert.

„Queenless ants“ nach Peeters sind solche, bei denen die gynomorphe Form fehlt, die Königinfunktion von Ergatomorphen übernommen wird, Bsp. Diacamma. Für Peeters und seine Anhänger sind „queens“ eben nur die ge-/entflügelten Tiere, egal ob begattet/fertil oder nicht. „Polygynie“ bezieht er dann aber wieder auf reproduktive Individuen, so dass er über „Polygyny in the queenless ant xxx“ schreiben konnte.

Kommt noch der Quatsch mit den Interkasten hinzu: Das sind morphologisch zwischen Gynomorphe und Ergatomorphe stehende Formen, die aber nur vereinzelt auftreten und keine Funktion, schon gar nicht als reproduktive Königin haben. Die Frage ist da, was man als Kaste bezeichnet: Die Morphen oder die funktionell spezialisierten Tiere. Falls letzteres, ist "Interkaste" Unsinn: Es gibt nichts zwischen begattet fertil und unbegattet steril. Allenfalls unbegattet fertil, aber dann wird's endgültig undurchschaubar, weil dann bei vielen Arten die Arbeiterinnen zu Eier legenden "Interkasten" werden könnten.

Zurück zu Polyergus:
Normalerweise hat jede Kolonie eine einzige gynomorphe Königin (entsprechend der „bronzefarbenen Königin“ in Ihrem hier oben verlinkten thread). Immer mal wieder findet man Kolonien, in denen zusätzlich mehrere Intermorphe leben bzw. aufgezogen werden (entsprechend Ihrer „ergatomorphen Königin“ auf dem Grashalm in Ihrem thread).
Deren Funktion ist bis heute nicht klar. In grauer Vorzeit, am Anfang meiner Karriere, habe ich mal zwei aus einem Nest seziert und gefüllte Receptacula "gesehen". Inzwischen traue ich mir damit selbst nicht mehr über den Weg.
Man müsste auch bei Ihrem Beispiel wissen, ob diese Tiere begattet sind und ob sie z.B. nur intermorphe Jungweibchen oder sowohl gynomorphe als auch intermorphe produzieren: Das wäre dann ein Königinnen-Polymorphismus.

Herr Heller hatte mir mal ein paar Intermorphe geschickt, die aber unbegattet waren. Dabei stellte ich fest, dass diese Tiere gar nicht einfach zu präparieren sind: Organe ungewöhnlich weich und hinfällig, so dass man sich nicht richtig sicher sein kann, was man sieht.

Ich würde daher sehr gerne noch weitere solche Tiere präparieren, bevorzugt solche, die auf dem Raubzug mitlaufen, oder über einem Wirtsnest „lauern“, so wie Sie es abgebildet haben!

Wenn es also im nächsten Sommer wieder so weit ist, wäre ich für Zusendung einiger Exemplare dankbar. Müsste per e-mail zeitlich abgestimmt werden und ich würde sie lebend benötigen.
Seifert hat diese Intermorphen nicht erwähnt, vermutlich weil man nicht viel dazu sagen kann.

Zu den Färbungsvarianten kann ich leider nichts sagen. Die ganz schwarze Königin sieht irgendwie nicht so aus als sei die Färbung durch Myrmicinosporidium verursacht. Es wäre aber möglich. Genau kann man es erst sagen, wenn man so ein Tier aufmacht
( http://www.ameisenwiki.de/index.php/Myr ... dium_durum )

Viele Grüße,
A. Buschinger
!!! EINHEIMISCHE HAUSAMEISEN SIND KEINE SCHÄDLINGE per se !!! - Sie nutzen nur Baufehler bzw. Bauschäden zur Anlage ihrer Nester. Dies ist anders bei Exoten wie Pharaoameise, Pheidole spp. usw..
Boro
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Beitrag von Boro »

Guten Abend Herr Professor!
Ich danke für die ausführliche Stellungnahme. Im kommenden Jahr (schätzungsweise Ende Juli) werde ich versuchen einige dieser Intermorphen zu fangen. Nach vorheriger Terminabsprache werde ich sie dann lebend (ist mir viel lieber!!) nach Deutschland schicken. Da der Transport ein paar Tage dauert, werde ich vielleicht ein paar Arbeiterinnen von Serviformica aus dem gleichen Nest mitschicken, damit die Königinnen auch ernährt werden. Selbstverständlich wird dann vorher getestet, ob sich die Königinnen untereinander "verstehen" bzw. die Serviformica-Arbeiterinnen akzeptieren.
Mit besten Grüßen Boro
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